Nicht einfach den Brennweitenring drehen
Mit viel ins Bild setzen und nah ranholen ist die Wirkung der Brennweiten nicht so einfach zu beschreiben.
Objektive mit kürzeren oder längeren Brennweiten als die Normalbrennweite verkleinern oder vergrößern nicht einfach wie ein Feldstecher, sondern reden bei der Bildgestaltung mit.
Größe und Tiefe von Motiven
Wenn wir das Motiv nicht einfach herauszoomen, sondern in gleicher Größe ablichten, müssen wir einer größeren Brennweite einige Schritte zurückgehen.
- Bei kleineren Brennweiten wird der Vordergrund überproportional groß abgebildet,
- die großen Brennweiten der Teleobjektive kürzen die Entfernungen in der Tiefe und lassen die Objekte näher zusammen rücken.
Und das sind nicht noch nicht alle Effekte der Brennweiten – dazu kommt noch die unterschiedliche Schärfe im Hintergrund bei Aufnahmen mit dem Weitwinkel und dem Teleobjektiv.
Die Effekte der Brennweiten
Ein kleine Brennweite lichtet einen großen Bildwinkel ab – perfekt für Landschafts- und Architekturfotografie, eine größere Brennweite erfasst eine Vergrößerung des Motivs mit einem kleineren Bildwinkel. Während die Motive in einem Foto mit Normalbrennweite in einer normalen Größenrelation erscheinen, ändern sich die Größenrelation und die Tiefenwirkung bei allen anderen Brennweiten.
In Fotos mit langen Brennweiten rücken Vordergrund und Hintergrund nah zusammen, Distanzen schrumpfen. Die Größen der nahen und fernen Gegenstände werden egalisiert. Kurze Brennweiten hingegen dehnen die Tiefe des Raums aus. Bei kurzen Brennweiten erscheinen Objekte im Vordergrund überproportional groß im Bild.
Bei der kleineren Brennweite im linken Foto erscheint der Baum im Vordergrund deutlich größer als die dunkle Tanne hinter dem Bau. Die größere Brennweite im rechten Bild hat die Größenverhältnisse egalisiert: Der Baum vor dem Schlösschen und die dünne grüne Tanne dahinter erscheinen fast gleich groß.
Die Bildgestaltung nutzt den Größenkontrast der kleinen Brennweiten genauso wie die Komprimierung der Entfernungen bei langen Brennweiten – beides sind keine Abbildungsfehler, sondern fotografische Effekte.
Einfach zoomen ohne Positionsänderung
Bleiben wir am selben Platz stehen und fotografieren das Motiv mit einer kleinen und einer größeren Brennweite entsteht bei der größeren Brennweite nur eine Ausschnittsvergrößerung. Auch wenn die Ausschnittsvergrößerung die beste Qualität aufweist, ändert sie am Bildcharakter nichts.
Würde die Aufnahme rechts auf das Foto links kopiert und verkleinert, wäre der Ausschnitt einfach deckungsgleich.
In Landschaftsaufnahmen können wir uns oft frei bewegen und das Motiv mit einer kleineren Brennweite aufnehmen, um die Tiefe der Landschaft zu betonen. Auch wenn wir immer wieder in Versuchung kommen, eine größere Brennweite einzusetzen, um Details besser herauszuarbeiten: Die Tiefe und die Raumwirkung steigen mit der kleineren Brennweite.
Nicht umsonst gelten die kleinen Zoomobjektive mit Brennweiten von ~24 bis 75 mm als klassisches Reiseobjektiv.
Raum für Bildsprache und Emotionen
Spektakulärer als Abbildungsgröße und Bildwinkel – die jedem ohne große Erklärung schnell klar sind – ist die Raumwirkung der kleinen und großen Brennweiten.
- Je größer die Brennweite, desto flacher wird der Raum abgelichtet und die Objekte im Bild rücken zusammen.
- Je kleiner die Brennweite, desto tiefer wirkt der Raum und die Objekte im Bild rücken auseinander.
Die kleinen und großen Brennweiten bilden also nicht nur einen Feldstecher. Zwischen dem Weitwinkel und dem Supertele steckt viel Potential für die Bildsprache: Die Brennweite setzt Nähe und Weite, Enge und Distanz ins Bild.
Die Normalbrennweite ist nicht normal
Die Normalbrennweite gibt die Größenverhältnisse natürlich wieder – das stimmt, wenn wir uns in eine Camera Obscura setzen und ein Bild in der Zentralperspektive konstruieren. Aber mit dem bloßen Auge ohne diese Hilfsmittel sehen wir die Welt vor uns nicht mit einer Normalbrennweite, sondern wir sehen die Objekte direkt vor uns nicht so groß und die Objekte in der Entfernung nicht so klein. Erst wenn wir – wie ein Maler – einen Stift zur Hilfe vor die Augen halten, nehmen wir die Größe der Gegenstände in der Nähe und der Entfernung bewusst wahr.
Brennweite für Porträts
Porträts wirken schönend und ebenmäßig bei größeren Brennweiten. Darum liegt das klassische Porträt-Objektiv zwischen 70 bis 130 mm, viele Fotografen setzen auch noch längere Brennweiten ein. Bleiben die Brennweiten unter 60 mm, müssen wir bei schönenden Porträts auf die Körperhaltung achten: Schon bei der Normalbrennweite, die uns die Größenverhältnisse relativ natürlich zeigt, wirkt ein vorgestreckter Arm oder ein Knie weiter vorn im Bild größer als in unserem mentalen Bild in Kopf.
Wir nehmen die Größenunterschiede der Zentralperspektive mit dem bloßen Auge nicht bewusst wahr. Darum benutzen Maler und Zeichner einen Stift, den sie in einem bestimmten Abstand vor die Augen halten. Damit vergleichen Sie die Größenverhältnisse der Objekte im Vordergrund mit den Objekten im Hintergrund.
In einem Foto hingegen springen die Größenverhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge.
Die Manipulation der Brennweite
In kaum einem anderen Mittel der Bildgestaltung steckt so viel Manipulation wie in der Brennweite: Der Prospekt des Hotels zeigt den Swimmingpool mit einem starken Weitwinkel, um seine Größe zu betonen. Der Blick zum Meer wird mit einer langen Brennweite fotografiert, um die Nähe und den kurzen Weg zum Meer herauszustellen.
Schöne Telewelt der Titelseiten
Die schönen Models auf den Titelbildern werden mit langen Brennweiten fotografiert, denn das nimmt dem Gesicht die charakteristischen Züge. Wir finden ein Gesicht um so schöner, je durchschnittlicher es ist.
Lange Brennweiten machen aber auch dick. Also hungern sich Models weit unter die Normalgrenze. Erst dann sehen sie bei langen Brennweiten immer noch superschlank aus.
Von oben herab und weitwinklig
Promis hingegen werden in den Klatschspalten der Yellow Press mit kurzen Brennweiten und von einem hohem Kamerastandpunkt fotografiert. Das bringt die Proportionen aus dem Gleichgewicht:
Der Kopf wird groß, die Schultern wirken schmal, die Beine werden kurz.
Der Fotojournalist muss seine Brennweiten bewusst planen, denn bei einem Interview müssen Gesprächspartner auf gleicher Höhe bleiben, auch wenn einer der Beteiligten weiter hinten steht.
Die Produktfotografie muss die Dimensionen des Produkts realistisch darstellen, damit der Käufer Höhe, Breite und Tiefe des Objekts gut abschätzen kann.